Zum Gedenken an Claudius Graf-Schelling

Im Alter von 69 Jahren ist alt Regierungsrat Dr. Claudius Graf-Schelling unerwartet früh gestorben. Als Regierungsrat reformierte er den Kanton und setzte sich für eine aktive Vergangenheitsbewältigung ein. Als Arboner engagierte er sich unermüdlich für den Thurgau und die Bodenseeregion.

Am 24. November 2019 verstarb im Alter von 69 Jahren für Familie und Freunde völlig unerwartet alt Regierungsrat Claudius Graf-Schelling. In der reformierten Kirche in Arbon, in der er getauft wurde, heiratete und in der auch einer seiner Enkel getauft wurde, erlitt er am Sonntag einen Herzstillstand. So schloss sich dort sein Lebenskreis, wo dieser begonnen hatte. Er hinterlässt seine geliebte Frau Leoni, drei erwachsene Kinder sowie zwei Enkelkinder. Fast sein ganzes Leben verbrachte Claudius Graf-Schelling in Arbon, wo er die Primar- und Sekundarschule besuchte. Sein wacher Geist, seine Intelligenz und sein Fleiss befähigten Claudi, Sohn eines Typographen, die Kantonsschulzeit in Frauenfeld mit Bravour zu bestehen. Sein Vater Albert Graf-Bourquin, der ein bekannter Kunstsammler und -förderer, aber auch Gründer des bibliophilen Verlages Arben-Press war, weckte in ihm wohl schon früh seine Liebe zur Kunst und Literatur. Als Seebub zog ihn der Bodensee immer wieder in den Bann. Ein prägendes Erlebnis für ihn war, als er 1969 als Jugendlicher zusammen mit drei Jugendfreunden den Bodensee von Arbon nach Langenargen schwimmend überquerte. Den Kopf über dem Wasser, das Ziel vor Augen, den Überblick behaltend, beharrlich, ausdauernd und willensstark erreichte er als einziger das deutsche Ufer. Diese Beharrlichkeit und Zielorientiertheit ermöglichten ihm auch später, seine gesteckten Ziele erfolgreich umzusetzen.
Ein starkes und beeindruckendes Erlebnis war für den jungen Claudius Graf-Schelling die Seegfrörni 1963. Mit den Schlittschuhen überquerte er am 25. Februar 1963 mit seinem Bruder und weiteren Schülern das grosse Eis, um dem Bürgermeister von Langenargen eine Originallithographie als Erinnerung an die Seegfrörni 1963 zu schenken. Anlässlich des Jubiläums 50 Jahre Städtefreundschaft Langenargen/ Arbon hielt er 2013 einen Vortrag über das «Wunder des Jahrhunderts», die Seegfrörni: «Unbekannte Menschen begegneten sich in der Seemitte als Brüder und Schwestern. Aus den Gesichtern leuchtete die Freude, strahlte das Glück.» Für Claudius Graf-Schelling trennte der Bodensee die Menschen um ihn herum nicht, sondern er verband sie schon seit Jahrhunderten miteinander, nicht nur während der Seegfrörni. Und so lässt sich auch verstehen, weshalb Claudius Graf-Schelling so grossen Wert auf die Zusammenarbeit über die Kantonsgrenzen hinaus legte. Immer ging es darum, ein geregeltes und friedliches Zusammenleben der Menschen miteinander zu erlangen. Dies motivierte ihn auch für die Tätigkeit von 2008 bis 2015 als Vertreter des Kantons Thurgau in der Internationalen Bodensee Konferenz.
Das Interesse für die Bodenseeregion zeigte sich auch in seiner Dissertation von 1978, in welcher er sich den Hoheitsverhältnissen am Bodensee widmete und mit der er an der Universität Zürich zum Doktor der Rechtswissenschaft promovierte. Nach einem kurzen Aufenthalt in St. Gallen kehrte Claudius Graf-Schelling 1978 als Rechtsanwalt nach Arbon zurück. 1988 wurde er zum Präsidenten des Bezirksgerichts Arbon gewählt. In dieser Funktion blieb er, bis er im Jahre 2000 in den Regierungsrat gewählt wurde.
Bereits 1971 trat Claudius Graf-Schelling in die Sozialdemokratische Partei ein und engagierte sich seither in verschiedenen Funktion
in der lokalen und kantonalen Politik. Von 1979 bis 1987 gehörte er der Ortsverwaltung der Stadt Arbon an und von 1982 bis 1988 präsidierte er die lokale Sektion der SP in Arbon. Seine enge Verbundenheit mit der SP Arbon zeigt sich zusammen mit seinem ausgeprägten historischen Interesse auch in der beeindruckenden Festschrift «Roth und röter», die er 2016 anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der SP Arbon mitverfasste.
Von 1984 bis 2000 war er Mitglied des Grossen Rates, wo er ab 1994 die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Fraktion präsidierte. Im Jahr 2000 wurde er in den Regierungsrat gewählt, wo er er die Führung des Departements für Justiz und Sicherheit übernahm. Dreimal präsidierte er in dieser Zeit den Thurgauer Regierungsrat. Nach 15 Jahren erfolgreicher Regierungstätigkeit trat Claudius Graf-Schelling im Mai 2015 aus der Regierung zurück. Als einziger Sozialdemokrat in einem bürgerlich dominierten Regierungsrat war er sich seiner Minderheitsposition sehr wohl bewusst, verstand es jedoch geschickt, dank profunden Dossierkenntnissen, feinem Gespür für das Machbare, Kompromissbereitschaft, überzeugender Argumente und diplomatischem Vorgehen immer wieder, seinen sozialdemokratischen Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen.
War Graf-Schelling nach sorgfältiger Prüfung und genauer Analyse von einer Sache überzeugt, packte er tatkräftig an und blieb hartnäckig dran, bis er das Ziel erreicht hatte. Er war ein seriöser, überlegt handelnder, glaubwürdiger und reformorientierter, also sozialdemokratischer, Politiker, getreu seinem Motto: «Chancen suchen, erkennen und wahrnehmen».
Während seiner Regierungszeit gelang es ihm, wichtige Reorganisationen einzuleiten und umzusetzen. So kam es zu tiefgreifenden departementsinternen Reorganisationen. Mit der von ihm vorangetriebenen neuen Bezirkseinteilung in fünf Bezirke im Kanton, die am 1. Januar 2011 in Kraft trat, wurde eine Ordnung abgelöst, die seit dem 6. Juni 1800 unverändert Bestand hatte.
In früheren Jahren tat sich der Kanton Thurgau schwer im Umgang mit benachteiligten Mitmenschen sowie mit Flüchtlingen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Claudius Graf-Schelling war es ein Anliegen, diese dunklen Seiten in der Geschichte des Kantons aufzuarbeiten und sich bei den Betroffenen zu entschuldigen. So entschuldigte sich der Thurgauer Regierungsrat 2011 auf seinen Antrag hin bei allen Verdingkindern. 2014 schliesslich bedauerte der Regierungsrat die damalige und noch lange fortdauernde Zurückhaltung des Kantons in Sachen Heimaufsicht im Kinderheim St. Iddazell. Die Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigte Claudius Graf-Schelling bis zuletzt. Erst dieses Jahr erhielt er vom Regierungsrat den Auftrag eine Jury zu präsidieren, welche auf dem Spitalfriedhof in Münsterlingen ein «Zeichen der Erinnerung» für die von den Medikamententests Betroffenen realisieren soll.
Nach seiner Pensionierung blieb Claudius Graf-Schelling weiterhin engagiert und stellte sein Wissen, sein Netzwerk und seine Erfahrung freigiebig zur Verfügung. So wählte ihn im Dezember 2015 die Plenarversammlung der Konferenz der Kantonsregierungen in die Interkantonale Vertragskommission (IVK). Als literarisch interessierter Mensch präsidierte er die Thurgauische Bodman-Stiftung.
Seine Kraftquelle und sein Lebenszentrum waren aber während der ganzen Zeit seine Familie, seine Frau Leoni und seine drei Kinder sowie die beiden Enkelkinder. Bei und mit ihnen konnte er im eigenen Heim im Bergliquartier in Arbon immer wieder Energie tanken. Gerne nahm er sich intensiv Zeit für seine Enkelkinder, die er im Kinderwagen ausführte, um mit ihnen die Welt zu entdecken.
Für Claudius Graf-Schelling galt auch nach seinem Ausscheiden aus der Regierung die Devise, wer rastet, der rostet, geistig wie körperlich. So sah man ihn häufig mit seiner Frau Leoni mit dem Fahrrad unterwegs. Sie tourten gemeinsam friedlich und gemütlich in der Bodenseegegend herum, mit Zwischenhalten in Museen und an historisch interessanten Orten. Und regelmässig wanderte er mit seiner Tochter im Alpstein, die Natur geniessend. Claudi liebte den stillen Augenblick, den er mit Leidenschaft fotographisch festhielt. Immer wieder zückte er seine Kamera, um stimmungsvolle Bilder einzufangen. Und diese zeigten sehr oft seine Heimatstadt Arbon und Umgebung. Bilder von blühenden Obstbäumen im Frühling, vom Bodensee und vom sonnenklaren deutschen Ufer im Sommer, vom ruhig schlafenden Hafen mit seinen «Böötli» im Herbst und von der Steinacher Bucht im Winter. Der Bodensee, das Schweizer Meer, das war seine Heimat. Hier konnte er die Enge hinter sich lassen, den Kopf ausfluten und ein Gefühl einatmen, für das er sonst in die holländische Heimat seiner Frau Leoni reisen musste.
Claudi hatte beide Seiten: die lokale und regionale Verwurzelung mit seinem persönlichen Engagement im Hier und Jetzt bis zu seinem Tode und die weit über die Grenzen seiner Heimat hinausgehende Vision einer friedlichen, freiheitlichen und menschenwürdigen Weltgemeinschaft. Mit alt Regierungsrat Claudius Graf-Schelling verliert der Kanton Thurgau eine Persönlichkeit, die den Kanton während Jahren geprägt und weitergebracht hat. Dabei hat ihm der regelmässige Blick zurück in die eigene Geschichte und zu den eigenen Wurzeln geholfen, den Thurgau in die richtige Richtung zu führen. Bei all seinem grossen Engagement für die Sache begegnete er seinen Mitmenschen jedoch stets freundlich und respektvoll.
Claudius Graf-Schelling wird uns als feiner, hochanständiger Mensch und Freund mit grossem Gerechtigkeitssinn und Rechtsempfinden in Erinnerung bleiben.
Wir danken Claudius Graf-Schelling für seinen grossen Einsatz für die Menschen in Arbon, im Thurgau und über die Grenzen hinweg.

Bernhard Bertelmann / Alfi Saam, SP Arbon

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